Double Crush: Wenn der Körper doppelt sendet und das Nervensystem nicht mehr schweigt

Ein Beitrag aus meiner therapeutischen Praxis

Es beginnt oft harmlos. Ein leichtes Kribbeln in den Fingern, ein Ziehen im Nacken, eine schwache Hand beim Zuknöpfen der Bluse. Dann wieder nichts – tageweise Ruhe, als wäre alles eingebildet gewesen. Bis es wieder auftaucht, etwas intensiver, etwas tiefer. Nicht greifbar. Nicht klar lokalisierbar. Nur spürbar – wie ein Echo im Körper, das nicht verstummt.

Viele meiner Patientinnen erzählen von solchen diffuser werdenden Beschwerden. Sie haben bereits Diagnosen – vom Karpaltunnelsyndrom bis zur Schultergelenksdysfunktion. Sie waren beim Neurologen, beim Orthopäden, vielleicht auch in der Ergotherapie. Aber etwas fehlt. Irgendetwas ergibt noch keinen Sinn.

Genau hier kommt ein Phänomen ins Spiel, das in der klassischen Diagnostik häufig übersehen wird, obwohl es klinisch wie praktisch von zentraler Bedeutung ist: das Double Crush Syndrome.


Was bedeutet Double Crush?

Der Begriff stammt aus der Neurochirurgie und beschreibt eine Beobachtung, die auf den ersten Blick banal, bei näherer Betrachtung jedoch grundlegend ist:

Wird ein Nerv an einer Stelle komprimiert – beispielsweise am Handgelenk – reagiert er empfindlicher auf Reizungen an einer zweiten, entfernt liegenden Stelle – etwa im Halsbereich. Eine einzige Engstelle löst womöglich keine Symptome aus. Zwei oder mehr jedoch verstärken sich gegenseitig – mit komplexen, häufig nichtlinearen Folgen für das gesamte Nervensystem.

In meiner Praxis zeigt sich das oft bei Menschen, deren Symptome sich nicht eindeutig einer anatomischen Region zuordnen lassen:

  • Taubheitsgefühle, die wechseln

  • Druck- oder Brennschmerzen entlang ganzer Gliedmaßen

  • Spannung im Brustkorb

  • Muskelschwäche trotz unauffälliger Bildgebung

  • Unklare Sensibilitätsstörungen

Sie sind nicht „psychosomatisch“ – sie sind Ausdruck einer multifokalen Nervenreizung, die das zentrale Nervensystem nicht mehr effizient kompensieren kann.


Der Nerv als lebendiges System

Was wir in der Myoskeletal Alignment Therapy berücksichtigen – und was konventionelle Modelle oft nicht einbeziehen – ist der Umstand, dass Nerven keine linearen Stromkabel sind. Sie sind bewegliche, mit Faszien umhüllte Gewebeeinheiten, die auf Gleitfähigkeit, Raum und metabolische Versorgung angewiesen sind.

Eine Skalenusverkürzung im Hals, ein kollabierter Costoclavicular-Raum unter dem Schlüsselbein, ein angespannter Pectoralis minor – all das kann auf den Plexus brachialis drücken. Wird dieser dann auch noch distal im Pronator teres, im Karpaltunnel oder in der Guyon-Loge beeinträchtigt, entsteht eine Mehrfachkompression mit kumulativer Wirkung.

Interessanterweise genügt oft eine dieser Stellen allein nicht, um Symptome auszulösen. Erst das Zusammenspiel bringt das System aus dem Gleichgewicht.


Eine Frage der Körperintelligenz

Was viele unterschätzen: Der Nerv als Gewebe ist lernfähig. Wird er über Wochen oder Monate an mehreren Stellen gereizt, verändert sich nicht nur seine mechanische Empfindlichkeit, sondern auch die zentrale Verarbeitung im Gehirn. Die Reizschwelle sinkt. Der Körper „merkt sich“ die Bedrohung und beginnt, Bewegungsmuster zu meiden – oft unbewusst.

Hier beginnt die Entkopplung von Ort und Ursache: Das Gehirn sendet Schmerzsignale, obwohl die primäre Läsion längst abgeklungen ist. Die Folge ist ein diffuses Leiden, das sich häufig dem klassischen therapeutischen Raster entzieht.


Therapeutische Perspektiven: Warum MAT hier so wirksam sein kann

Als MAT-Therapeutin habe ich gelernt, den Körper nicht punktuell, sondern in Faszienbahnen und Spannungsmustern zu lesen. Ein Schmerz in der Hand kann in der Halswirbelsäule vorbereitet worden sein. Ein Ziehen im Ellbogen kann aus einer gestauchten ersten Rippe resultieren.

Das bedeutet konkret:

  • Ich suche keine „Triggerpunkte“ – ich analysiere Bewegungsmuster, Haltungstypen, Atemverhalten, Muskelspannungen und neurologische Engpässe entlang ganzer Bahnen.

  • Ich arbeite nicht symptomorientiert, sondern strategisch entlang der Nervenmobilität, mit dem Ziel, Raum, Gleitfähigkeit und Regulation wiederherzustellen.

  • Ich kombiniere klassische MAT-Techniken mit viszeralen Mobilisationen und achtsamer Reorganisation, um auch vegetative Komponenten mit einzubeziehen.

Was dadurch geschieht, ist oft nicht spektakulär im Moment – aber nachhaltig im Prozess.


Aha-Moment: Der Schmerz ist nicht das Problem – er ist der Bote

Einer der wichtigsten Wendepunkte in der therapeutischen Arbeit ist der Moment, in dem jemand erkennt: „Der Schmerz ist nicht gegen mich – er ist eine Botschaft, dass mein Nervensystem überfordert ist.“

Double Crush ist nicht einfach eine mechanische Läsion. Es ist eine Form von systemischer Überlastung – eine Überlagerung von Kompression, Inflammation und neuronaler Irritation, die mit reiner Lokaltherapie selten aufzulösen ist.

Was hilft, ist eine systemische Entlastung:

  • mechanisch

  • vegetativ

  • emotional

  • neuronaler Natur

Dafür braucht es Zeit, Geduld und eine fundierte therapeutische Begleitung – aber vor allem: eine neue Landkarte vom eigenen Körper.


Schlussgedanke

Wenn sich Symptome verschieben, verstärken oder nicht einzuordnen sind, lohnt es sich, das Konzept des Double Crush Syndrome mitzudenken. Es ist kein modischer Begriff, sondern ein Hinweis auf ein überlastetes System, das mehrfach Signale sendet – nicht weil es „defekt“ ist, sondern weil es gehört werden will.

Genau dafür ist die MAT geschaffen: nicht um Symptome zu glätten, sondern um die Sprache des Körpers neu zu verstehen – und ihm seinen Raum zurückzugeben.

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